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abischerz








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ausschnitte aus werken und wirken ‚dirk pinthardts‘:

der ball ist rund, herr schultz! – historische erzählung

„Schultz!“ rief mein Hund mir zu. Ich klatschte mir erst einmal Wasser ins Gesicht und noch eine Scheibe Wurst aufs Brot. Dann nahm ich noch einen tiefen Schluck aus der Kanne mit dem Earl Grey und wurde wieder zurückgeholt in die Wirklichkeit – oder das, was ich dafür hielt. Dauerhafte Trägheit vermag es eben, auch einen gefestigten Geist zu zermürben. Ich ging zu Wladimir auf die Straße, kaufte mir einen kalten und abgestandenen Kaffee und eine alte Spiegel-Ausgabe. Egal, Hauptsache rot. Und das einzig deutsche, was die Russen hier verkauften. Wieder drinnen im Zimmer fand ich in Sergejs Bücherschrank ein selbst verfasstes Fußball-Regelwerk – ein krasser Gegensatz zu jener Sportart, in der ich gerade von meinem Leben als Punchingball hin und her gestoßen wurde. Im Grunde genommen ist doch jede Regellosigkeit vieler anscheinend geordneter Systeme nichts weiter als eine Farce, deren Perfektion diese jedoch selbst entlarvt. Ich las einige Seiten: „§1: Der Ball ist rund. §2: Er wird mit den Füßen getreten und wer in seinem Besitz ist, beginnt zu laufen.“

„Schultz!“, dachte ich bei mir. Eine verblüffende Analogie, eine detaillierte Beschreibung von Selbstverständlichkeiten, derer es dennoch bedarf und derer es in meinem Leben gerade mangelte, eine Parodie auf meine Vergangenheit, eine Aneinanderreihung von Plattitüden. „§3: Ein faires Zusammenspiel der Akteure ist von großer Bedeutung und zu erstreben. §4: Der eingesetzte Spielleiter ist dazu eingerichtet, die Einhaltung der Regeln zu überwachen und etwaige Verstöße dagegen zu ahnden.“ Ich erinnerte mich an meinen verlorenen Prozess in Deutschland. Schon 117 Tage auf der Flucht vor den germanischen Behörden zermürbten mein Gewissen und hatten meinen Glauben an unser Rechtssystem längst vollkommen zerstört. Und nun war ich hier schon seit 116 Tagen in Moskau, Gortsky-Prospekt 246, bei Sergej. Sergej war ein alter Bekannter meiner Mutter. Als ich weg musste, dachte ich mir: „Ruf Sergej an! Er wird in seinem Zwei-Zimmer-Dreckloch in Moskau schon noch ein Zimmer für dich frei haben.“ Hier liege ich also, Nacht für Nacht, auf zwei zusammengeschobenen Seifenkisten, ein Laken darüber. Und neben mir der Hund.

„Schultz!“ rief er, und ich legte mir noch eine Scheibe alten Gouda aufs Brot. Ich las weiter: „§5: Ziel des Spieles ist es, den Ball hinter die Torlinie zu befördern.“ Ich beschloss, das nicht gut zu finden. Ich blickte planlos in meine Zukunft und dann in Sergejs Spiegel. Ich wusste nicht, was die nächsten Tage so bringen würden. Die nächsten Wochen. Monate. Jahre? Ich hatte kein Ziel und auch keine Linie, nicht einmal eine Richtung. Mein Gemüt schwankte zwischen Ost-Berlin und „Aggregatzustand: Dickflüssig“. Der Spiegel in meiner Hand, wie auch der an der Wand, wies auf das von mir bereits verdrängte Vergangene hin, das Risse in meiner gestauchten Seele und meinen vertrockneten Händen hinterließ. Ich konnte mich noch gut an jenen Tag erinnern, als es geschah. Ich ging mit Else Meiers, einer alten, schwerhörigen und fast vollkommen erblindeten Frau von über 80 Jahren, in der Nähe des Hofparks spazieren. Widerwillig hatte ich mich dazu überreden lassen und begleitete sie durch die Stadt. Es war ihr letzter Weg. Wir ließen gerade die Einkaufspassage hinter uns und überquerten die Straße, als ich die Liebe meines Lebens des Weges kommen sah.

„Schultz!“, hallte es in meinen Ohren wie das Echo aus einer tiefen Höhle. Abrupt drehte ich mich um, gab der alten Meiers dabei eher zufällig einen leichten Stoß in der Hüftgegend, stürmte, meiner leidenschaftlichen Sehnsucht nachgebend, los und hatte die arme alte Frau Meiers, die verzweifelt um ihr Gleichgewicht rang, hilflos und allein auf der Straße zurückgelassen. Damit hatte sich ihr Leben dem Ende zugeneigt; der Faden ihrer Vita war in dem Moment zu Ende gesponnen, als sie von einem Jugoslawen im LKW übersehen und überrollt wurde. Ich spürte, wie die Angst und die anklagenden Schreie der Passanten meinen ganzen Körper durchdrangen. Die Bilder dieses tragischen Unglücks fraßen sich, wie Maden, tief in meine Seele hinein. Auch mir wurde klar, ich war schuld. Ganz allein. Aber konnte und wollte ich mir das wirklich eingestehen? Wenig später wurde mir der Prozess gemacht.

„Schultz!“, ermahnte ich mich. Was konnte ich tun? Das Adrenalin schoss in meinen Adern empor wie das Wasser nach dem Öffnen einer Schleuse. Ich schmeckte das Salz des über mein Gesicht laufenden Schweißes. Ich konnte nicht mehr. „Du bist vorbestraft. Gehst du nun in den Knast für den Rest deines verschissenen Lebens?“, fragte ich mich. Mein Leben war ohnehin bis zu dem Tag, als es passierte, ein einziger Haufen Scheiße. Die Liebe meines Lebens hatte mich fallen lassen, mein Studiengang für Weißrussische Literatur war für das nächste Jahr gestrichen worden.

„Schultz!“, hatte mein Hund damals zum ersten Mal gerufen und dann meinen Hamster gefressen. Und jetzt sollte alles in einem verschissenen Knast enden? Ich beschloss zu fliehen, bevor sie mich gewaltsam in irgendeine heruntergekommene Haftanstalt schleppen konnten. Ich rannte, von Panik getrieben, aus dem Gerichtsgebäude, über den von Gemüsehändlern übersäten Luisenplatz hinweg und riss die Tür eines parkenden Taxis auf. „Fahr!“, brüllte ich den Fahrer an, ohne irgendein bestimmtes Ziel genannt zu haben. Menschenmassen blickten sich um, als wir mit quietschenden Reifen losfuhren und so die Innenstadt verließen.


schraubstock – flucht ins sein.

„Vielen Dank. Auf Wiedersehen. Schönes Wochenende.“
Verdammt, diesmal hätte er es beinahe geschafft. Er hatte es sich so fest vorgenommen. Wieder nichts. Immer noch nicht. Zum Verzweifeln. Endgültig.
Als er in die Straßenbahn stieg, kam noch einmal alles hoch. Sein Leben. Leben. Darum ging es ihm. Er war ein Verlierer. Er fühlte sich verloren. Er hatte verloren – sein Leben.

„Ihre Fahrkarten bitte.“
Der Fahrkartenkontrolleur. Scheiße, wo hatte er nur seine Karte gelassen? Das würde Ärger geben – er hatte seinen Geldbeutel nicht dabei! Wäre eigentlich auch nicht nötig gewesen, wenn er die Sache durchgezogen hätte. Mit dem Geld aus der Kasse hätte er sich sogar locker ein Taxi leisten können. Hätte! Stattdessen hatte er mit dem letzten Zigarettengeld für diesen Monat eine Packung Gummibären und eine Flasche Cola gekauft. Wie immer. Was für ein Schisser er doch war!
„Danke.“
Die Türen waren zu. Eine Flucht kam nun nicht mehr in Frage. Verflucht, er saß verdammtnochmal in der Klemme! Da waren höchstens noch ein gutes Dutzend Leute, die der beschissene Penner abzufertigen hatte.
Die Straßenbahn setzte sich in Bewegung. Ihm kam es so vor, als bewegte sie sich in Zeitlupe.
„Fahrkarte? Danke!“
Noch nie zuvor war ihm aufgefallen, wie schwerfällig sich die Bahn fortbewegte. Doch war es auf jeden Fall besser und schneller als im Auto im beschissenen Stau zu stehen. Die ganze Drecks-Stadt bestand zu den Stoßzeiten aus einem einzigen beschissenen Stau. Und Hupen. Und Klirren. Und weiteren schrillen Geräuschen, die einen in den Wahnsinn trieben.
„Fahrkarte.“
Oh Gott. Ihm musste etwas einfallen. Er war verloren. Schon wieder. Alles wurde von Sekunde zu Sekunde schlimmer. Verdammte Scheiße!
„Ah, sieh an, die Frau Tilkowski. Dass man Sie auch mal wieder sieht! Mensch, wie lange ist das her? Ein halbes Jahr? Meine Güte, wie die Zeit vergeht...“
Die Rettung. Vielleicht. Hoffentlich. Er hätte nie gedacht, dass er einem dieser nervigen Rentner-Weiber dankbar sein würde.
„... und Ihre Tochter – im wievielten Monat ist sie jetzt? Müsste doch schon der achte sein, oder?“
Was konnte das Leben für wunderbare Zwischenfälle beinhalten! Wenn es nur mehr davon gegeben hätte...
„Die Fahrkarten bitte!“
Was? Nein. Das konnte doch nicht sein! So ein Gespräch konnte doch nicht ... konnte doch nicht ... so schnell vorbei sein.
„Nächste Haltestelle: Luisenplatz.“
Das war mit Abstand die wärmste und freundlichste Computer-Stimme, die er je gehört hatte.
„Die Fahrkarten. Danke.“
Was er jetzt noch brauchte, war ein ganz klein wenig Glück. Aber wenn nicht... Wenn der Schaffner ihn wieder aufs Revier nehmen würde, wie er es vor gar nicht allzu langer Zeit schon getan hatte. Und nicht zum ersten Mal. Er war bei der Betreibergesellschaft nun wahrlich kein Unbekannter mehr. Und dann würden sie sicherlich den Revolver mit der abgefeilten Seriennummer entdecken, den er bei sich führte. Keine Chance, das verdammte Ding hier los zu werden... Und er, der mehrfach Vorbestrafte, würde wieder einmal in Erklärungsnöte geraten. Wie schon so oft. Viel zu oft.
„Danke.“
Er hätte daran denken sollen, Geld mitzunehmen. Der Geldbeutel wäre doch wirklich kein Hindernis beim Laufen gewesen, und er könnte jetzt eine Karte kaufen. Er hätte doch ohnehin wahrscheinlich überhaupt nicht fliehen müssen.
„Fahrkarte? Danke!“
Was war er nur für ein Versager! Warum hatte er die verdammte Aktion nicht verdammtnochmal zu Ende gebracht? Ach, Scheiße!
„Nächster Halt: Luisenplatz. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.“
Noch nie war diese aufgesetzt freundliche Karikatur einer menschlichen Stimme so wohlklingend an sein Ohr gedrungen. Das durchdringende Bremsgeräusch setzte ein. Langsam, viel zu langsam kam die Straßenbahn zum Stehen.
Der Schaffner stand unmittelbar vor ihm.
„Die Fahrkarten bitte. Danke.“
Er sprang auf, drängte sich an einer Frau mit einem Kind auf dem Arm vorbei und stieß, sich mit beiden Schultern Platz verschaffend, beinahe einen älteren gesetzten Herren um und begab sich direkt vor die Tür, die jeden Augenblick geöffnet werden musste.
Wie Wasser aus einer gerade geöffneten Schleuse strömten die Menschenmassen aus den Türen. Und er war einer unter ihnen.

Gerade noch hatte er es geschafft! Wenigstens etwas hatte er geschafft. Wenn doch nur andere Dinge genauso geklappt hätten! Wenigstens ein paar, wie die Supermarktsache. Er wäre die meisten Sorgen losgeworden und man hätte sich vielleicht sogar an ihn erinnert. Er hatte aber wieder einmal versagt. Wieder saß er fest. Gefangen in der finsteren Anonymität. Arm. Und links liegen gelassen. Einmal mehr hatte es nicht sollen sein. Sein – das war es doch nur, was er eigentlich wollte: einfach einmal zur Kenntnis genommen werden...